- Frühere Studien haben die Auswirkungen der arktischen Klimaänderung auf Wildtiere untersucht, vor allem bei Meerestieren und Eisbären. Zu den meisten Landsäugetieren liegen allerdings nur wenige Daten vor.
- Im Rahmen eines breiteren Versuchs, eine ökologische Basis für arktische Wildtiere zu entwickeln, haben sich Forscher auf Moschusochsen konzentriert, dem am wenigsten erforschten Säugetier in Nordamerika.
- Laut einer neuen Studie führen immer häufiger auftretende extreme Wetterereignisse – wie Regen-auf-Schnee und extrem trockene Winterbedingungen in Russland und Alaska während der Trächtigkeit von Moschusochsen – zu einer geringeren Kopfgröße bei jungen Moschusochsen. Kleinere Tiere haben im Allgemeinen allerdings schlechte Überlebensraten.
- Durch die doppelt so schnelle Erwärmung der Arktis verglichen mit dem weltweiten Durchschnitt sind neue Studien an kalten Klimasäugetieren einschließlich Moschusochsen, Rentieren und Karibus dringend nötig, sagen Wissenschaftler. Nur so kann bestimmt werden, wie schnell der eskalierende Klimawandel im Norden Auswirkungen auf Wildtiere, Lebensräume und Ökosysteme hat.
In der grönländischen Arktis haben die Inuit ein Wort für ein bizarres Naturphänomen, das in der gefrorenen Landschaft vorkommt: Sassat. Dies bedeutet übersetzt so viel wie „angebotene Nahrung durch dichtes Tiervorkommen“. Dieses Wort umfasst historisch eine Reihe von Szenarien, darunter der spektakuläre Eismeereinschluss von 150 Narwalen, 170 Belugas und unzähligen Seeottern im südlichen Beringia in den historischen Aufzeichnungen.
In zunehmendem Maße sind Sassats jedoch nicht auf Meeressäuger beschränkt. Ein Winter-Tsunami im Tschuktschensee im Jahr 2011 zum Beispiel begrub und tötete 52 wollige Moschusochsen. Die Auswirkungen eines sich verändernden Ozeans/Klimas kommen in der Arktis zum Vorschein.
Seltene Extremwetterereignisse wie Regen auf Schnee, Eisgezeitenwolken und stark schwankende Winterniederschläge sind für die neue Arktis charakteristisch geworden. Wissenschaftler wollen genauer wissen, wie sich diese Wetter- und Klimamuster auf die Tierpopulation der Region auswirken.
Im Rahmen eines breiteren Versuchs, eine ökologische Basis für arktische Wildtiere zu entwickeln, haben sich Forscher kürzlich auf Moschusochsen konzentriert, dem am wenigsten untersuchten Säugetier in Nordamerika. „Bei einer Reihe von Arten beobachten wir direkte und indirekte Auswirkungen der Erwärmung, die viele verschiedene Parameter der Biologie von Tieren beeinflussen“, sagte Joel Berger, ein leitender Wissenschaftler der Wildlife Conservation Society.
In einer kürzlich veröffentlichen wissenschaftlichen Studie des Journals „Scientific Reports“ fanden Berger und seine Mitautoren heraus, dass die Kopfgröße von jugendlichem Moschusochsen in Russland und Alaska kleiner war. Dies wirkte sich nach extrem trockenen Winterbedingungen und Regen-auf-Schnee-Ereignissen während der Schwangerschaft der Muttertiere negativ auf die Jungtiere aus.
Die wahrscheinlichste Ursache: Die wärmer werdenden Temperaturen haben die Luftgeschwindigkeit verändert und die Zeit in der das Meereis in der Arktis bleibt. Dies wiederum verändert die Meeresströmungen, den Zeitpunkt und die Intensität des Niederschlags. Mittlerweile fällt in den Wintermonaten mehr Regen als Schnee auf das Festland. Wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen, kann der Boden vereisen und Moschusochsen müssen mehr Energie für das Finden von Nahrung aufwenden. Im Umkehrschluss sorgt Regen ohne Frosttemperaturen für eine kleinere Schneedecke. Den Tieren wird somit die Nahrungssuche erleichtert. Aber ohne Isolierung kann die Pflanzenproduktivität während der nächsten Vegetationsperiode sinken. Wenn Mütter nicht in der Lage sind, den ernährungsphysiologischen Bedarf ihrer Babys zu stillen, leiden junge Moschusochsen an diesen Folgen.
Über sieben Jahre lang untersuchten Forscher die Kopfform von Moschusochsen an drei verschiedenen Untersuchungsorten in der russischen und alaskanischen Arktis mit Teleobjektiven und Entfernungsmessern. Marci Johnson, damals Biologe beim US-amerikanischen National Park Service in Kotzebue, Alaska, half bei der Verfolgung von Tieren mit Halsband, während andere Forschungsgruppen hunderte von Kilometern über verschneitem Schnee mit der Schneemaschine unterwegs waren. „Manchmal brauchten sie einen Tag, um zwischen zwei Gruppen von Moschusochsen hin und her zu reisen“, beschreibt Johnson die Schwierigkeiten einer solchen Studie.
Letztendlich fanden die Forscher heraus, dass der kleinste ein bis zwei Jahre alte Moschusochse im Datensatz nach dem Winter 2007-2008 auftrat, als zwischen Oktober und April keine Niederschläge auftraten. Die größten Kopfgrößen traten beim nassesten Winter in ihren Daten auf. (Im Hochland von Tibet fand man heraus, dass die gefährdeten wilden Yaks, Verwandte von Moschusochsen, weniger stark laktieren, wenn der Schnee knapp wird.) Bei den dreijährigen Moschusochsen waren die größten Tiere diejenigen, bei denen während der Schwangerschaft kein Regen auf Schnee fiel.
Der ostasiatische Sektor von Beringia auf der Wrangell Island erlebte zweimal häufiger Regen-auf-Schnee-Ereignisse, kältere Temperaturen und kürzere Wachstumsperioden als an den Studienstandorten in Alaska. Dadurch waren Wrangell Island-Moschusochsen kleiner als ihre Verwandten in Alaska.
„Das größere Problem bei den Größen von Jungtieren ist, dass kleinere Tiere nur wenig Überlebenschancen haben“, sagt Berger. „Dies [stimmt] für eine breite Palette von Arten. Für Moschusochsen verwenden wir die Kopfgröße als Index, um Fragen zur Populationsgesundheit und zur Populationsentwicklung zu beantworten.“
Da so wenige Basisdaten über Moschusochse existieren, ist es nicht bekannt, wie kleinere Moschusochsen oder weniger Moschusochsen ihre Umgebung und ihr Ökosystem beeinflussen könnten: Welche Pflanzen, Vögel und andere Säugetiere könnten betroffen sein? Wichtig ist, dass diese und andere Forschungen zeigen, dass Eisbären nicht mehr die einzigen Landsäugetiere sind, die die Hitze in der Arktis spüren.
In den folgenden Jahren hoffen Wissenschaftler, ihr Wissen darüber zu erweitern, inwiefern der Klimawandel Landsäugetiere in der ganzen Arktis beeinflusst. Mehrere aktuelle Studien haben beispielsweise den Einfluss von Eis auf Rentier- und Karibuherden dort betrachtet. Schon lange ist man der Meinung, dass die zeitweilige Vereisung von den Wintergebieten der Rentier- und Karibuherden zu Massenverhungern, der Ausrottung von lokalen Populationen und katastrophalen Reduzierungen der Tiere führt. Eine 2016 durchgeführte Studie fand jedoch heraus, dass es nur wenige Datensätze gibt, die vorhandenen harten Schnee oder vorkommendes Eis in den Gebieten in den Wintern aufweisen, in denen die Populationen rückläufig waren. Stattdessen fand man heraus, dass klimatische Bedingungen mit mehr Schnee oder wärmer werdenden Wintern zu einem Überfluss an Tieren in den vorhandenen Populationen führte.
Berger und andere Wissenschaftler stimmen darin überein, dass – mit der Erwärmung der Arktis, die doppelt so schnell wie der weltweite Durchschnitt voranschreitet – eine tiefgreifende Erforschung der Auswirkungen auf arktische Säugetiere und Ökosysteme dringend erforderlich ist.
Quellen:
Berger, J. et al. Climate Degradation and Extreme Icing Events Constrain Life in Cold-Adapted Mammals. (2018) Scientific Reports. 8. Article 1156
Tyler, N. J. C. Climate, snow, ice, crashes, and declines in populations of reindeer and caribou (Rangifer tarandus L.) (2010). Ecol. Monogr. 80, 197–219