Ein Matsés-Schamane namens Cesar. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Eine der größten Tragödien unserer Zeit ist das Erlöschen indigener Traditionen, Geschichten, Kulturen und Kenntnissen weltweit. Ganze Sprachen und Mythen verschwinden, in einigen Fällen sterben sogar ganze Volksstämme aus. Dass nun ein Volksstamm aus dem Amazonas – das Volk der Matsés in Brasilien und Peru – ein 500-Seiten langes traditionelles Medizinlexikon verfasst hat, macht diese Meldung daher umso bemerkenswerter. Die Enzyklopädie, die von fünf Schamanen und mit der Unterstützung der Naturschutzgruppe Acaté zusammengestellt wurde, beschreibt jede Pflanze, die in der Matsés-Medizin zur Heilung von einer Vielzahl von Krankheiten zum Einsatz kommt.
„Die traditionelle Medizinenzyklopädie der Matsés kennzeichnet erstmals die komplette Transkription von Schamanen eines indigenen Volksstammes im Amazonas ihrer medizinschen Kenntnisse, geschrieben in ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Wörtern“, sagte Christopher Herndon, Präsident und Mitbegründer von Acaté gegenüber Mongabay in einem Interview (siehe unten).
Die Matsés haben das Lexikon in ihrer Sprache drucken lassen, um sicher zu gehen, dass das medizinische Wissen nicht von Kooperationen oder Wissenschaftlern gestohlen wird, etwas, dass bereits in der Vergangenheit passiert ist. Stattdessen soll die Enzyklopädie ein Leitfaden sein, um neue, junge Schamanen in der traditionellen Weise auszubilden und das Wissen der noch lebenden Schamanen vor ihrem Ableben aufzuzeichnen.
„Einer der angesehensten Ältesten der Heiler starb, bevor er sein Wissen weitergeben konnte, daher war dies der Zeitpunkt zu handeln. Acaté und die Heiler der Matsés entschieden sich dafür, die Enzyklopädie an oberste Stelle zu stellen, bevor noch mehr der Ältesten verstarben und ihr Ahnenwissen mit ihnen verloren gehen konnte“, sagte Herndon.
Weiterhin hat Acaté ein Programm ins Leben gerufen, dass die verbleibenden Schamanen der Matsés mit jungen Studenten verbindet. Durch dieses Mentorenprogramm hoffen die indigenen Menschen, ihre Lebensweise die sie Jahrhunderte lang gepflegt haben, erhalten zu können.
„Dadurch, dass das medizinische Pflanzenwissen innerhalb der indigenen Bevölkerungen schnell schwindet und es niemanden gibt, der dieses Wissen aufschreibt, sind die indigenen Gruppierungen diejenigen, die tragischerweise am meisten verlieren“, sagte Herndon. „Die Methode, die von den Matsés und Acaté entwickelt wurde, kann anderen indigenen Kulturen als Schema dienen, um das Wissen ihrer Ahnen zu schützen.“
INTERVIEW MIT CHRISTOPHER HERNDON, M.D.
Mongabay: Warum ist dieses Lexikon so wichtig?
Chris Herndon (links) und Arturo, ein Schamane (rechts), bei der Ansicht von Entwürfen der neuen Enzyklopädie. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Christopher Herndon: Mit dem Erstellen der Enzyklopädie wird der Moment markiert, in dem Schamanen eines amazonischen Stammes zum ersten Mal eine komplette Transkription ihres medizinischen Wissens in ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Worten erstellt haben. Über die Jahrhunderte hinweg haben amazonische Völker durch die mündliche Weitergabe von Kenntnissen einen angesammelten Reichtum an Wissen und Behandlungstechniken angehäuft, die das Ergebnis von tiefspirituellen und physischen Verbindungen zur natürlichen Welt sind. Die Matsés leben in einem der weltweit vielfältigsten Ökosysteme und beherrschen das Wissen der Heileigenschaften dieser Pflanzen und Tiere. Doch in einer Welt in der kultureller Wandel selbst die abgeschiedensten Gesellschaften destabilisiert, schwindet dieses Wissen rasant.
Es ist kaum vorstellbar, wie schnell das Wissen verloren geht, sobald ein Stamm mit der Außenwelt in Berührung kommt. Einmal ausgelöscht, kann das Wissen, genau wie die Selbstversorgung des Stammes nie wieder vollkommen hergestellt werden. Historisch gesehen, folgt dem Verlust des einheimischen Gesundheitssystems in vielen indigenen Gruppen meist die komplette Abhängigkeit von dem rudimentären und extrem begrenzten Gesundheitswesen von außerhalb, das in solch abgeschiedenen und schwer zugänglichen Orten vorhanden sind. Es überrascht daher nicht, dass die indigene Bevölkerung in vielen Länder die höchste Sterbe- und Krankheitsrate hat.
Aus Sicht der Matsés ist diese Initiative wichtig, da der Kulturverlust und das mangelhafte Gesundheitswesen zu ihren größten Sorgen zählen. Die Methode, mit der sie ihr Wissen erfolgreich geschützt und bewahrt haben, kann für viele indigene Gemeinden als wiederholbares Modell dienen, die sich ähnlichen kulturellen Verlusten gegenüber sehen. Wir wissen, dass es für die weitere Naturschutzbewegung eine starke Korrelation zwischen intakten Ökosystemen und indigenen bevölkerten Regionen gibt, daher ist das Stärken von indigenen Kulturen der effektivste Weg große Regenwaldflächen zu schützen.
Mongabay:
Christopher Herndon: Das Wissen der Matsés und die angehäufte Weisheit der Generationen standen kurz vor der Auslöschung. Glücklicherweise gab es noch einige Älteste, die über das Ahnenwissen verfügten, da der kontinuierliche Kontakt zu Außenwelt nur ein halbes Jahrhundert zurücklag. Die Heiler waren beim Erstkontakt erwachsen und hatten ihre Fähigkeiten bereits gemeistert, bevor ihnen von Missionaren und Regierungsmitarbeitern mitgeteilt wurde, dass diese sinnlos seien. Zu dem Zeitpunkt, als wir mit dem Projekt anfingen, hatte keiner der Ältesten interessierte junge Matsés, die von ihnen das Heilen erlernen wollten.
Einer der bekanntesten Ältesten der Heiler starb, bevor er sein Wissen weitergeben konnte, daher war dies der Zeitpunkt zu handeln. Acaté und die Häuptlinge der Matsés entschlossen sich, die Enzyklopädie an oberste Stelle zu setzen, bevor noch mehr Älteste verstarben und das Ahnenwissen mit ihnen verloren gehen konnte. Bei dem Projekt ging es nicht darum, einen traditionellen Tanz oder eine Tracht zu schützen, es ging um ihre Gesundheit und die der zukünftigen Generationen der Matsés. Es stand viel auf dem Spiel.
Mongabay: Wie können wir uns die Enzyklopädie vorstellen?
Christopher Herndon: Nach zwei Jahren intensiver Arbeit von den Matsés beinhaltet die Enzyklopädie nun fünf Kapitel von fünf der obersten Heiler und ist über 500 Seiten lang! Jeder Eintrag wurde nach Erkrankung unterteilt, mit Erklärungen, wie die Symptome erkannt werden können; deren Ursache; welche Pflanzen genutzt werden müssen; wie die Medizin hergestellt werden kann und alternative therapeutische Möglichkeiten. Die Matsés haben von jeder Pflanze ein Foto gemacht, das jeden Eintrag der Enzyklopädie begleitet.
Die Enzyklopädie wurde nach der Weltanschauung der Schamanen der Matsés geschrieben, mit der Beschreibung wie die Regenwaldtiere mit der natürlichen Geschichte der Pflanzen und den Krankheiten verbunden sind. Es ist eine wahre schamanische Enzyklopädie, vollständig geschrieben und bearbeitet von indigenen Schamanen, nach unserem Wissen die erste dieser Art und diesen Umfangs.
Mongabay: Inwiefern kann die Enzyklopädie den Naturschutz unterstützen?
Schamane und Lehrling. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Christopher Herndon: Wir glauben, dass der effektivste und nachhaltigste Ansatz für den Schutz des Regenwaldes die Stärkung von indigenen Menschen ist. Es ist kein Zufall, dass die letzten verbliebenden unberührten Bereiche des neotropischen Regenwaldes eng mit den Bereichen überlappen, die von indigenen Bevölkerungsgruppen bewohnt werden. Volksstämme verstehen und würdigen den Regenwald, da sie auf ihn angewiesen sind. Diese Beziehung geht aber über eine nutzungsorientierte Abhängigkeit hinaus; es gibt eine spirituelle Verbindung zum Wald, einen Sinn von Verbundenheit, die in der getrennten westlichen Mentalität schwer begreiflich ist, aber nichtsdestotrotz sehr real ist.
Viele der schwerwiegenden Umweltbedrohungen in abgeschiedenen indigenen Gebieten, von denen man in den Nachrichten hört – Öl, Holz, Bergbau und dergleichen – machen externe Branchen aus. Diese lauern dem geschwächten internen, sozialen Zusammenhalt der kürzlich kontaktierten indigenen Bevölkerung opportunistisch auf, ihren begrenzten Ressourcen und ihrer verstärkter Abhängigkeit zur Außenwelt. Acatés allumfassendes Thema der drei programmatischen Bereiche: nachhaltige Wirtschaft, traditionelle Medizin und Agrarökologie ist die Selbstversorgung. Acaté hat diese drei Schutzthemen nicht vorherbestimmt, sie wurden zusammen mit den Ältesten der Matsés beschlossen, die wissen, dass sie ihre Kultur und ihr Land durch eine Position von Stärke und Unabhängigkeit am besten schützen können.
Die Enzyklopädie wurde über mehrere Tage hinweg bei einer Zusammenkunft von den Häuptlingen der Matsés und den hinterbliebenen Schamanen-Ältesten überprüft und bearbeitet. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Aus Sicht des weltweiten Naturschutzes schützen die Matsés allein in Peru über 3 Millionen Morgen Land des Regenwaldes. Dieses Gebiet umfasst einige der am unberührtesten, artenreichsten und kohlenstoffreichsten Wälder im Land. Die Gemeinschaft der Matsés auf der brasilianischen Seite der Flüsse Javari und Yaquerana umrahmen die westliche Grenze des indigen Reservates Vale do Javari. Dieses Reservat ist etwa so groß wie Österreich und hat die größte Anzahl „unkontaktierter“ Volksstämme, die in freiwilliger Isolation zur restlichen Welt leben. An den südlichen Ausläufern des Territoriums der Matsés, am Oberlauf des Flusses Yaquerana, liegt La Sierra del Divisor, eine Region von atemberaubender natürlicher Schönheit, Artenreichtum, und auch unkontaktierter Volksgruppierungen. Aus diesen Gründen, obwohl nur etwa 3000 Menschen den Matsés angehören, sind sie strategisch positioniert, um einen weiten Bereich des Regenwaldes und eine Zahl von isolierten Volksgruppierungen zu schützen. Diesen Volksstamm zu stärken hat für den Naturschutz den größten Nutzen.
Mongabay: Sie sagten, dass die Enzyklopädie nur Phase I einer breiten Initiative von Acaté sei, wie sehen die anderen Komponenten aus, um ihr traditionelles Gesundheitssystem zu erhalten?
Christopher Herndon: Die Fertigstellung der Enzyklopädie ist ein historischer und kritischer erster Schritt, um die existentiellen Bedrohungen der Heilweisheiten und Selbstversorgung der Matsés zu reduzieren. Nichtsdestotrotz ist die Enzyklopädie allein nicht genug, um ihre Selbstständigkeit aufrechtzuerhalten, da ihr Gesundheitssystem auf Erfahrungen beruht, die nur durch eine lange Lehre übermittelt werden können. Durch die Einflüsse der Außenwelt hatte leider keiner der Ältesten Lehrlinge, als wir mit dem Projekt starteten. Gleichzeitig wird das medizinische Pflanzenwissen der verbliebenen Ältesten in den meisten Dörfer immer noch aktiv genutzt. Man ist darauf angewiesen, ein Großteil der Ältesten wird aber auf über 60 eingeschätzt.
Riesenmakifrosch. Foto von: Rhett A. Butler.
In Phase II des Lehrlingsprogramms wird jeder Schamane — viele davon haben an Kapiteln für die Enzyklopädie mitgewirkt — von einem jungen Matsé in den Wald begleitet, um über die Pflanzen zu lernen und bei der Behandlung von Patienten zu assistieren. Das Lehrlingsprogramm wurde 2014 im Dorf Esitrón unter der Leitung des Ältesten Luis Dunu Chiaid ins Leben gerufen. Aufgrund des Erfolges in Esitrón wurde bei dem jüngsten Treffen einstimmig beschlossen, dass dieses Programm auf so viele Dörfer wie möglich ausgeweitet werden soll. Priorität haben dabei Dörfer, die keinen traditionellen Heiler mehr haben.
Ziel ist Phase III, das Einbeziehen und die Verbesserung der „westlichen“ Gesundheitsversorgung mit traditionellen Praktiken. Wilmer, ein Gesundheitsförderer in der kleinen Klinik in Estirón und einer der Lehrlinge des Pilotprojektes ist ein Vorbild für anderes Gesundheitspersonal der Matsés. Er versteht, dass die zukünftige Gesundheit seines Volkes auf einem doppelten, lebendigen Gesundheitssystem beruht, dass es der Gemeinde erlaubt, Vorteile aus beiden Welten schöpfen.
Zusätzlich wurde sich darauf geeinigt, dass unsere Bemühungen in der Agro-Forstwirtschaft ausgeweitet und auch die medizinische Pflanzenintegration beinhalten soll. Diese werden auf dem heilenden Wald basieren, der von einem der größten Heiler der Matsés in Nuevo San Juan geschaffen wurde und momentan von seinem Sohn gepflegt wird. Für Außenstehende wirkt dieser Wald wie ein unbestimmter Teil des Regenwaldes am Fußweg zu den Häusern, etwa 10 bis 15 Minuten entfernt vom Dorf. Sobald der oberste Schamane auf die Heilpflanzen aufmerksam macht, merkt man jedoch, dass man von einer Vielzahl von Heilpflanzen umgeben ist, die von den Heilern der Matsés kultiviert wurden, um eine große Anzahl von Krankheiten zu heilen. Viele Regenwaldranken und –pilze wachsen nicht in offenen, sonnendurchsetzten Gärten und brauchen zur Vermehrung das Ökosystem des Regenwaldes. Dass der heilende Wald 10 bis 15 Minuten außerhalb des Dorfes angelegt wurde, ist charakteristisch für die Effizienz der Matsés. Wenn Sie ein krankes Kind haben, wollen Sie schließlich nicht 4 Stunden reisen, um ein Gegenmittel zu finden.
Mongabay: Die Enzyklopädie wurde in der Sprache der Matsés geschrieben, um Biopiraterie und Diebstahl des indigenen Wissens zu verhindern. Ist Biopiraterie für die Matsés überhaupt von Bedeutung?
Angewandte traditionelle Medizin der Matsés. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Christopher Herndon: Leider gibt es immer wieder Fälle von Diebstahl an indigenen Menschen. Besonders für die Matsés ist dies ein Thema. Das Hautsekret des Riesenmakifrosches (Phyllomedusa bicolor) wird in Jagdritualen von den Matsés genutzt. Das Sekret, das reich an bioaktiven Peptiden ist, wird bei frischen Verbrennungen oder Schnittwunden direkt auf die Haut aufgetragen. Innerhalb weniger Sekunden verursachen die Giftstoffe intensive kardiovaskuläre und automatische Reaktionen, die letzten Endes zu einem Zustand veränderten Bewusstseins und erhöhter sensorischer Sehstärke führt.
Obwohl es Riesenmakifrösche im nördlichen Amazonien gibt, gibt es nur Berichte davon, dass die Matsés und nur einige wenige panoanische Nachbarvölker dieses starke Sekret nutzen. Nachdem Berichte von dem Gebrauch des Sekrete aus dem Wald nach außen drangen, wurden Untersuchungen in Laboren mit den Sekreten der Frösche durchgeführt, die den komplexen Peptidcocktail offenlegten, der mächtige vasoaktive, narkotische und antimikrobielle Eigenschaften besitzt. Einige pharmazeutische Firmen und Universitäten meldeten Patente an den Peptiden an, ohne Würdigung der indigenen Menschen, für die dieser Frosch und sein Sekret eine lange, einmalige und wichtige Rolle spielt. Ein antifungielles Peptid des Frosches wurde sogar transgenetisch in eine Kartoffel verpflanzt.
Die Angst vor Biopiraterie hat leider zwei Seiten. Viele Naturschutzgruppen und –wissenschaftler im Amazonas machen Projekte, in denen das indigene Wissen der einheimischen Fauna dokumentiert wird, beispielsweise die Aufzeichnung von Vogelnamen, halten sich aber meist komplett zurück, wenn es um medizinische Pflanzen geht, aus Angst vor dem Vorwurf, Biopiraterie zu erleichtern. Aber mit dem immer schnelleren Schwinden des Wissens über medizinische Pflanzen innerhalb der indigenen Stämme und niemandem, der dieses Wissen festhält, sind die wahren Verlierer meist die indigenen Volksgruppierungen. Die Methode, die die Matsés und Acaté entwickelt haben, kann als Vorzeigebeispiel dienen, damit andere indigene Kulturen ihr Ahnenwissen schützen und bewahren können.
Mongabay: Wie ging Acaté vor und wie wird das Wissen geschützt?
Christopher Herndon: Acaté und die Matsés haben eine innovative Methode entwickelt, um das medizinische Pflanzenwissen ihrer Ahnen vor der Auslöschung zu bewahren und gleichzeitig diese empfindlichen Informationen vor Diebstahl von außerhalb zu schützen. Die Enzyklopädie wurde ausschließlich in der Sprache der Matsés geschrieben. Es ist von und für die Matsés und es wird keine Übersetzung ins Spanische oder Englische geben. Es wurden weder wissenschaftlichen Namen beigefügt, noch Fotos von Blumen oder anderen für Außenstehende einfach zu identifizierenden Charakteristiken der Pflanzen.
Die neue Enzyklopädie wird durchgesehen. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Jedes Kapitel der Traditionellen Medizinenzyklopädie wurde von einem aus der Gemeinschaft ausgewählten bekannten Schamanen geschrieben. Jedem Ältesten wurde ein junger Matsé zur Seite gestellt, der in monatelanger Arbeit das Wissen niederschrieb und Fotos von den Pflanzen machte. Die Fotos und Texte wurden von Wilmer Rodríguez López, einem Matsé, der im Wissen der geschriebenen Transkription ihrer Sprache fachkundig ist, zusammengestellt und auf einem Laptop abgetippt.
Bei dem Treffen wurde die zusammengetragene Enzyklopädie, deren Entwurf weit über 500 Seiten ausmachte, im Kollektiv von den Stammesschamanen in mehreren Tagen bearbeitet und überprüft. Die vollendete Enzyklopädie wird nun für die Matsés und unter ihrer Leitung formatiert und gedruckt, und wird außerhalb der Gemeinschaft weder veröffentlicht noch verbreitet.
Wir gehen davon aus, dass der unumstrittene Erfolg der Methode, für den Acaté und unsere indigenen Partner die Wegbereiter waren, im Amazonas und darüber hinaus für ähnliche Bemühungen sorgen wird. Wir wissen bereits von ähnlichen Bemühungen von anderen Organisationen, die ähnliches vorhaben.
Mongabay: Verständlicherweise liegt der Fokus darauf, die Kultur und das Wissen der Matsés zu schützen, dieses Wissen könnte jedoch zukünftig Menschen auf der ganzen Welt retten. Gibt es besondere Auflagen, unter denen die Schamanen und die Matsés ihr Wissen von den amazonischen Pflanzen und Heilmitteln teilen würden? Oder wurde das Vertrauen bereits zu sehr missbraucht?
Christopher Herndon: Acaté kann in diesem Fall nicht für die Matsés sprechen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass die indigenen Heiler im Amazonas grundsätzlich gern ihr Wissen teilen, wenn man sich ihnen mit Respekt nähert. Sie sind auch an anderen Heilsystemen interessiert, auch unserem eigenen.
Matsés-Dorf. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Einige der wichtigsten Pharmazeutika der Menschheitsgeschichte, beispielsweise Chinnin und Aspirin, wurden durch das Erlernen von traditionellen Heilern entwickelt. Aufgrund vom politischen Klima und der internationalen Angst vor Biopiraterie ist es aber selbst für pharmazeutische Firmen mit guten Absichten eine Herausforderung, gerechte gewinnbeteiligte Vereinbarungen durchzuführen. Konkret gesagt ist das indigene Wissen und deren Medizin so komplex, dass wir in dem engen Zeitraum, in dem das Wissen bereits beginnt, verloren zu gehen, die Pflanzenchemie gar nicht vollkommen beurteilen können. Obwohl die Enzyklopädie nicht zu diesem Zweck hergestellt wurde, lässt sie Optionen in der Zukunft der Matsés offen; eine Zukunft, die anders als viele historische Vorläufer, mit Eigenbestimmung erfüllt sein wird.
Wir sollten auch nicht den Blick dafür verlieren, dass das gesamte traditionelle Gesundheitssystem der Matsés bis zur Erstellung der Enzyklopädie kurz davor war, durch die Einflüsse der Außenwelt, zu verschwinden. Die Matsés leben in abgeschiedenen Orten, die Gesundheitsvorsorge von außerhalb an diese Orte zu bringen, ist daher nur begrenzt möglich und jedes Mal eine Herausforderung. Selbst die Arzneiausgabe von grundlegendsten Medikamenten fällt in viele Gemeinden, vor allem in denen am weitesten flussaufwärts, immer sehr knapp aus. Beispielsweise die Medikamente um Falciparum Malaria zu behandeln, einer eingeschleppten Krankheit. Die Matsés müssen für diese Außen-Medikamente aus eigener Tasche bezahlen, eine große Ausgabe, denn viele der Ältesten haben kein Einkommen. Das einfache Mikroskop für Malaria-Abstriche war in fast jedem Dorf, das ich besucht habe, kaputt. Im Vergleich dazu leben wir in einer Welt des Überflusses, wenn es um die Gesundheitsvorsorge geht. Wenn es einen Dialog geben soll, sollten wir damit beginnen zu überlegen, wie wir diesen Menschen gegenwärtig helfen können, anstatt wie sie uns in der Zukunft helfen können.
Mongabay: Viele sehen keine Verbindung zwischen Medizin und dem Schutz des Regenwaldes. Wie steht Gesundheit im Zusammenhang mit der Umwelt?
Christopher Herndon: Die Gesundheit der Menschen, ihre Kultur und Umwelt sind eng miteinander verbunden. Man kann die harsche medizinische und sozialökonomische Wirklichkeit in Haiti nicht ohne die Tatsache betrachten, dass 98% des Halbinselstaates abgeholzt sind und ein Großteil des Landes, zusammen mit der Zukunft des Landes, zerfressen ist. Die Satellitenbilder von der Grenze zwischen Haiti und seinem Nachbarn, der Dominikanischen Republik, zeigen einen abrupten Wechsel von braun zu grün, das Ergebnis verschiedener Ansätze zum Nutzen von Ressourcen. Ähnlich sind die heutigen Bilder von Äthiopien, die wir von dem Land haben und über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Land noch vor einem Jahrhundert zum Großteil mit Waldflächen bedeckt war.
Eine Klinik im Matsés-Dorf. Die Matsés nutzen eine Mischung aus traditionellen Heilmethoden und westlicher Medizin, das Liefern und der Betrieb von abgeschiedenen Kliniken ist jedoch schwierig. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Das Schicksal der Matsés und ihrer Kultur sind auf ewig mit der Zukunft ihrer Wälder verbunden. Mit dem Schutz ihrer Wälder und dem Stärken ihrer Kultur, schützen wir auch ihrer Gesundheit vor einer Zukunft, die durch Diabetes, Unterernährung, Depressionen und Alkoholismus vereitelt wird. Diese Krankheiten, die in einer zweiten Welle eingeschleppt wurden, treten meist wenige Generationen nach dem Kontakt zur Außenwelt in den indigenen Gemeinden auf. So gesehen, können biokulturelle Naturschutzinitiativen ausgesprochen kosteneffektiv sein und präventive Ansätze zum Gesundheitsschutz bilden.
Mongabay: Inwiefern kann die Enzyklopädie dabei helfen, die Kultur der Matsés zu schützen?
Christopher Herndon: Manchmal beginnen Veränderungen vor Ort mit einer simplen, aber machtvollen Vorstellung. Mit der Vorstellung, dass Ihre eigene Kultur, Ihre eigenen Traditionen und Ihre eigene Art zu leben nicht weniger wert sind oder etwas sind, wofür Sie sich schämen müssten, anders als es einige vielleicht meinen. Die Vorstellung, dass die Regenwälder, die Sie als Ihr zu Hause kennen, einen höheren Wert haben, als die Ölreserven oder der Mahagoni, der abgebaut wird, um Luxusmöbel herzustellen. Die Vorstellung, dass die Beherrschung der Regenwaldumwelt nicht primitiv und rückständig ist, sondern sie an vorderster Front zur globalen Bewegung des Naturschutzes stellt. Die Enzyklopädie ist ein konkreter erster Schritt, um die immer weiter werdende Generationslücke zu überbrücken, bevor dies zu spät wird. Die Initiative zur Erstellung der Enzyklopädie erneuert den Respekt für die Weisheit der Ältesten und gibt den Regenwald als Quelle der Heilung und als Platz zum Lernen zurück.
Mongabay: Die Enzyklopädie wurde bei einem Zusammentreffen von den Häuptlingen des ganzen Territoriums und den verbliebenen Ältesten der Schamanen der Matsés vollendet. Wie war die Atmosphäre bei dem Treffen?
Herndon mit einem Schamanen bei dem Betrachten von medizinischen Pflanzen. Foto mit freundlicher Genehmigung von Acaté.
Christopher Herndon: Das bisher einmalige Treffen wurde in einem der abgeschiedensten Dörfer im Territorium der Matsés abgehalten. Es ist schwer in Worte zu fassen, was die Teilnehmenden gefühlt haben müssen, als die Ältesten der Matsés von den Kämpfen sprachen, die im wahrsten Sinne des Wortes geschlagen worden waren, um ihr Territorium und ihre Lebensweise zu schützen. Viele waren den Tränen nahe, als ein Ältester nach dem Anderen die Jugend aufforderte, die Chance zu ergreifen und die bevorstehende Leere zu füllen, die mit dem Sterben der Ältesten entstehen würde. Genauso wie sie es damals getan hätten, als ihre Großväter noch lebten. Ich arbeite jetzt seit 15 Jahren für den Naturschutz im Amazonas, aber diese Redekunst und diese Entschlossenheit in ihren Stimmen zu hören, war eine der inspirierendsten Erlebnisse. Es wird einem sofort klar, dass die Matsés im Grunde ihres Herzens Krieger sind, die lange gekämpft haben, um ihr Land zu schützen und die diesen Kampf fortführen werden.
Offenlegung: Chris Herndon ist im Vorstand von Mongabay.org, während Mongabay-Gründer Rhett Butler im Vorstand von Acaté Amazon Conservation ist. Rhett war nicht an dem Redaktionsprozess des Interviews beteiligt.