- Alessandra Munduruku sprach vor kurzem beim Globalen Klimastreik und legte dem Europäischen Parlament das Munduruku Konsultationsprotokoll vor, in dem Beschwerden über Rechtsverletzungen aufgelistet werden, mit denen die einheimischen Völker in Brasilien konfrontiert sind.
- Während sie in Berlin war, erzählte die brasilianische indigene Anführerin Mongabay von den Auswirkungen der Agrarindustrieausweitung und der Entwicklung von Infrastruktur im Amazonasgebiet vor Ort.
SANTAREM, Brasilien, und Berlin – Ich stieg aus dem Mototaxi aus, einer Transportmöglichkeit die in einigen Städten im Amazonasgebiet Teil des täglichen Lebens ist, nahm den Helm ab und schaute mich nach den zwei Jungs um, die vor der Tür eines Hauses auf mich warteten. Sie zeigten mir einen Pfad in den Hinterhof, zwischen Gebieten die von dem Fluss Tapajos überflutet sind. Es war Mai, Winter im Staat Para, was Regen und Überflutungen durch die Flüsse bedeutet. Die Temperatur draußen betrug 35 Grad Celsius (95 Grad Fahrenheit). Die zwei Jungs führten mich zu ihrer Mutter: Alessandra Korap Munduruku.
Einige Wochen zuvor waren die drei aus der indigenen Gemeinde Praia do Indio weg gezogen, einem unverzichtbaren Lebenspunkt für das Volk der Munduruku in der Stadt Itaituba – einem der Hauptgebiete für die Agrarindustrie in Brasilien, wo Silos für die Getreidelagerung ein Gebiet einnehmen, das größer ist als ein Wald. Sie leben jetzt in der Stadt Santarém, wo Alessandra in das Graduiertenprogramm für Recht an der Federal University of the West of Pará (Ufopa; dt.: Bundesstaatliche Universität des Westens von Para) eingeschrieben ist. Alessandra und die Jungs waren immer noch dabei sich daran zu gewöhnen, dass man in der Stadt alles bezahlen musste: Wasser, Essen, sogar wenn man auf dem Fußballfeld neben dem Haus spielen wollte. Dies war das erste Mal, dass sie nicht in einem System lebten, wo man gemeinsam produzierte und teilte – nicht nur Essen, sondern auch die Entscheidungsprozesse.
Vier Monate später, im September, traf ich Alessandra wieder, dieses Mal in Berlin. Die Temperatur betrug zu der Zeit 12 Grad Celsius (53 Grad Fahrenheit), sie war ernster und fand es schwierig, sich an das deutsche Essen zu gewöhnen. Wir trafen uns während der einzigen Lücke in der Tagesplanung, die mit Treffen mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments vollgepackt war. Doch sie war nach wie vor bereit, über das Volk der Munduruku zu sprechen, das heute aus ungefähr 13.000 Menschen besteht, so das brasilianische Gesundheitsministerium.
Es war das zweite Mal, dass wir uns in Berlin getroffen hatten. Einige Tage zuvor hatten wir in einem Kunstraum namens Savvy Contemporary (dt.: kluger Zeitgenosse) an einer Podiumsdiskussion teilgenommen. Sie zog die Aufmerksamkeit des 120 Menschen starken Publikums auf sich und sorgte dafür, dass sie nervös auf ihren Stühlen hin und her rutschten: “Wenn wir über die Feuer im Amazonasgebiet sprechen wollen, dann müssen wir erst über die Übergriffe, Pestizide, Bergbau, die Verantwortung europäischer Unternehmen und sogar Forscher, die unsere Ländereien ohne Genehmigung betreten, sprechen.”
In dieser Woche sprach sie beim Globalen Klimastreik und legte dem Europäischen Parlament das Munduruku Konsultationsprotokoll vor, in dem Beschwerden über Rechtsverletzungen aufgelistet werden, mit denen die einheimischen Völker in Brasilien konfrontiert sind. Alessandra war die erste weibliche Präsidentin der Pariri Assoziation, die das Munduruku Volk vom Middle Tapajos Fluss repräsentiert, und ist seitdem eine der indigenen Hauptanführerinnen im Land geworden.
Diese Lücke zwischen unseren beiden Treffen betonte noch einmal, wie viele Umweltprobleme in Brasilien immer wieder auf internationalem Level angesprochen werden. Während unserem Interview in Berlin, geführt auf Portugiesisch, sprach Alessandra über die Situation der indigenen Bevölkerungen unter der Verwaltung von Präsident Jair Bolsonaro, den Anstieg der Übergriffe auf indigene Ländereien in den vergangenen Monaten und die Rolle von Frauen im Kampf um Landrechte.
Mongabay: Bei der Globalen Klimastreik Demonstration haben laut Daten der deutschen Polizei 270 000 Menschen in Berlin teilgenommen. Sie haben am Brandenburger Tor zu dieser Menschenmasse gesprochen. Welches Potenzial sehen sie in dieser Mobilisierung und welche Rollen spielen die internationalen Ansprüche, die von verschiedenen indigenen Anführern erhoben wurden?
Alessandra Korap Munduruku: Dieser Tag zeigte, dass die deutsche Bevölkerung zuhören und etwas machen möchte. Und, dass es auf der ganzen Welt Menschen mit dem gleichen Willen gibt. Doch all diese Aufmerksamkeit für das Amazonasgebiet wurde von in Flammen stehenden Bäumen geweckt. Wir, die indigenen Völker, haben dies schon viel länger zum Thema gemacht.
Der freie Handlungsraum der Agrarindustrie und Holzfäller, zusätzlich zum beschleunigten Bau von Wasserkraftwerken, Häfen und Schienen, zerstören das Amazonasgebiet immer mehr. Man hat uns in den letzten Jahren nicht zugehört und die Situation hat sich unter Bolsanaros Regierung noch verschlimmert. Deswegen hoffe ich, dass die Mobilisierung weiter geht. Doch es bringt nichts, wenn man nur den Willen hat, etwas zu tun. Europäer und Menschen auf der ganzen Welt müssen beginnen, etwas zu tun, angefangen damit, dass sie den Leuten zuhören sollten, die die Wälder wirklich kennen. Ich bin genau deswegen gekommen, um zu zeigen, dass das, was in Brasilien passiert, auch Europas Verantwortung ist.
Deutschland ist eines der Länder mit einem starken öffentlichen Umweltdiskurs, doch gleichzeitig haben seine Unternehmen negative Auswirkungen in Brasilien. Welche Erwartungen haben Sie an diesen Besuch?
Ich hatte hier in Berlin einen vollen Terminplan: Treffen mit mehreren Parlamentsmitgliedern, um zu verlangen, dass die Vorgehensweisen der deutschen Unternehmen in Brasilien überwacht werden und, um das Munduruku Konsultationsprotokoll vorzustellen. Wir haben ein Konsultationsrecht, das in der Konvention 169 [der Internationalen Arbeitsorganisation] festgelegt ist. Wir wollen wissen, wo die detaillierten Informationen über deutsche und europäische Unternehmen sind, ihre Auswirkungen auf Brasilien, und zwar nicht erst nachdem der Schaden angerichtet ist. Wir müssen hinzugezogen werden, bevor Aktivitäten in unseren Territorien geplant werden.
Ich denke, dass die Bevölkerung in Deutschland mehr Rechte hat Infrastrukturprojekte, die große Auswirkungen haben, zu diskutieren, bevor diese beginnen. Es ist also keine gleichberechtigte Beziehung. Auf der anderen Seite müssen Europäer über die Produkte die sie konsumieren informiert werden. Sie sind auch dafür verantwortlich, diese Informationen einzuholen. Wir sind also gekommen, um zu reden und wir wurden gehört. Wir fordern zum Beispiel, dass Deutschland die Konvention 169 unterschreibt. Wir, die indigenen Völker, sehen nicht ein, dass Deutschland eins der Wald-freundlichsten Länder ist, aber es dennoch zulässt, dass seine Unternehmen sich in unseren Territorien ansiedeln, ohne, dass die traditionellen Völker Teil des Entscheidungsprozesses sind. Das ist die Wurzel der Abholzung und unseres Leids.
Konvention 169 garantiert die vorherige, freie und sachkundige Konsultation von indigenen Völkern. Was bedeuten solche Instrumente in der Praxis für die Gemeinden und warum gewinnen sie zur Zeit so sehr an Bedeutung? Könnten Sie uns vielleicht ein bisschen mehr über das Ziel des Munduruku Konsultationsprotokolls erzählen?
In den meisten Fällen erfahren wir erst durch die Medien von den Unternehmen. Infrastrukturprojekte werden in unserem Haus [dem Amazonasregenwald] installiert und wir erfahren als letztes davon. Dies war der Fall beim São Luiz do Tapajós Wasserkraftwerk, bei dem es uns 2016 gelungen ist, es aufzuschieben. Es gab öffentliche Anhörungen, bei denen alles bereits entschieden war, und die Menschen sollten einfach ja sagen. Deshalb wird jeder, der mit uns reden will, erst die Konvention 169 und das Munduruku Protokoll lesen müssen. Diese Dokumente besagen, dass wir das Recht haben, ja oder nein zu sagen, oder zu zeigen, was gemacht werden sollte, da wir jeden Abschnitt des Flusses, des Waldes, alles, kennen. Es macht keinen Sinn, sich darum zu bemühen, dass die Anführer für das gesamte Volk antworten, wie es die Unternehmen versuchen. Sie müssen unsere Geschichte respektieren. Die Munduruku, zum Beispiel, haben den allgemeinen cacique [die höchste Vertretung] und dies ist der cacique Arnaldo. Es gibt auch Assoziationen [für Gemeinden in unterschiedlichen Teilen des Waldes]. Unsere Vertretungen müssen also respektiert werden, so treffen wir Entscheidungen. Und jeder hat eine Stimme, sogar Kinder.
Medien auf der ganzen Welt haben das brennende Amazonasgebiet gezeigt. Und Daten von Waldüberwachungszentren wie INPE [dt.: das brasilianische nationale Institut für Weltraumforschung] weisen Spitzen in der Abholzung auf. Was haben Sie in der Praxis direkt im Munduruku Territorium gesehen?
Die Übergriffe auf unser Land und die Feuer haben zugenommen. Das Amazonasgebiet brennt wegen der Agrarindustrie, brennt um Raum für Infrastrukturprojekte zu machen, die in unserer Region um den Tapajos Fluss geplant werden. Es gibt nicht genug Überwachung oder Schutz von der Regierung vor der Abholzung indigener Ländereien. Im Juli, kurz bevor die Brände los gingen, haben wir Holzarbeiter aus dem indigenen Territorium Sawré Muybu verwiesen. Dies war während einer weiteren Phase unseres Selbstabgrenzungsprozesses. Wir haben gesehen, wie unsere Bäume gefällt wurden, Laster, schweres Gerät, und wir haben für alle eine Frist gesetzt zu gehen. Es gibt immer Menschen, die den Wald illegal betreten und abholzen und ihn somit zerstören. Es ist also keine Frage, wer das macht, es ist keine Überraschung. Wir laufen durch die Zerstörung, sie ist in unserem Zuhause. Das Amazonasgebiet brennt schon seit langer Zeit. Wir sind viel älter als 519 Jahre [vor 519 Jahren wurde Brasilien von den Portugiesen kolonisiert] und seitdem kämpfen wir.
Das Amazonasgebiet wird oft als “die Lunge der Welt” beschrieben. Doch diese Perspektive sorgt dafür, dass man sich nicht mehr auf die anderen Bedeutungen des Waldes konzentriert. Was wird noch zerstört?
Es gibt keine Trennung zwischen dem Wald und uns, das heißt, es wirkt sich auf alles aus. Ich habe mir zum Beispiel den Belo Monte Wasserkraft Damm angeschaut. Ich sah einen Haufen toter Fische. Das Unternehmen kommt, gräbt ein Loch und das Problem ist für sie gelöst. Die Bevölkerung hat sich an diese Szenen gewöhnt. Ich habe viel geweint. Und die versprochenen Arbeitsstellen, die Gesundheitsversorgung, Schulen – nichts davon wurde gehalten. Am Teles Pires Fluss haben sie bereits einen Damm gebaut und einen heiligen Ort zerstört: Karbobixexe [Sieben Wasserfälle].
Für den Tapajós Fluss sind 41 hydroelektrische Projekte geplant. Können Sie sich die Abholzung vorstellen und, dass es bedeuten würde, dass wir von unserem Land vertrieben werden, von unseren heiligen Stätten? Für uns stirbt alles: Die Art wie wir uns ernähren, die Art wie wir leben, unsere Sprache. Die indigenen Schulen kämpfen um ihre Existenz. Es gibt viele Abschnitte des Tapajós Flusses die nur wegen unseren Bemühungen noch sauber sind. Sehen Sie sich nur einmal an, wie die indigenen Leute seit hunderten von Jahren [im Wald] gelebt haben und der Wald lebt auch noch.
Präsident Jair Bolsonaro sagt, dass die Regierung sich der nachhaltigen Entwicklung angepasst hat und hat sein Argument wiederholt, dass indigene Völker einen Prozess durchlaufen sollten, das er “Einfügung in die brasilianische Gesellschaft” nennt. Eine der Rechtfertigungen für den Bau neuer Projekte ist die Notwendigkeit für traditionelle Volksgruppen Zugang zu Elektrizität, Internet und Schulen bereit zu stellen. Was sagen Sie dazu?
Nachhaltige Entwicklung hat für uns nie existiert. Um ein Wasserkraftwerk zu bauen muss man Bäume fällen und Gebiete fluten. Um eine Sojabohnenmonokultur zu pflanzen muss man die Leute von dort weg schaffen, wo sie leben. Was falsch hieran ist, ist, wie diese Dinge entschieden werden und wer sie entscheidet. Sehen Sie sich doch nur die Daten an, die zeigen, dass die Energie, die im Amazonasgebiet erzeugt wird, nicht in unsere Gemeinden fließt. Sie geht zu den Produkten, die nach Europa exportiert werden, in andere Regionen des Landes, in die Agrarwirtschaft, in Industrien. Das Ergebnis ist jedoch, dass die Menschen die am Fluss leben verunreinigtes Wasser trinken. Ein geschützter Wald bedeutet, dass er nicht gefällt werden darf. Und wir wollen kein Internet oder irgendwas, wenn es bedeutet, dass unser Territorium zerstört wird. Wir müssen angehört werden, wenn wir sagen, wie wir möchten, dass diese Dinge gemacht werden.
Etwas auf das diejenigen, die dieser Agenda folgen, aufmerksam geworden sind, ist, dass immer mehr Frauen Sprecher für die indigene Bewegung und Protagonisten verschiedener Aktionen sind. Was hat sich geändert?
Immer mehr Frauen verlassen ihr Zuhause, um [für Rechte] zu kämpfen. Wir sind präsent, sowohl in der Gemeinde, als auch im Kampf außerhalb – dies schließt auch Kommunikationsangelegenheiten ein. Heutzutage gibt es viele Mittel. Wir haben bereits das Coletivo Audiovisual Munduruku [Audiovisuelles Munduruku Kollektiv]. Die Munduruku Frauen fingen während der Selbstabgrenzung des indigenen Territoriums Sawré Muybu an, sich auf unserem Land mit Journalisten und Dokumentarfilmern zu treffen und beschlossen, dass sie keine Töpfe mehr tragen wollten, da wir tatsächlich schon immer eine wichtige Rolle in der Gemeinde hatten. Sie dachten sich: “Lasst uns andere Dinge tragen.” Und sie fingen mit Kameras an. Technologie ist ein Mittel, doch der Kampf hat sich seit Jahrhunderten nicht geändert.
Wir fordern auch die Männer heraus, die manchmal den Mut verlieren. Wir sagen: “Steht auf, wir schaffen das.” Wir hatten immer Kommunikationsmittel, es hat immer mehrere gegeben, nicht nur eins. Es gibt Handys, es gibt Briefe, es gibt Versammlungen. Lange Zeit war ich an vielen Orten die einzige Kriegerfrau unter Männern. Ich denke, manchmal haben sie sich gefragt: “Wird sie das aushalten können? Sie hat einen Mann, Kinder…”, aber ich habe einfach weiter gemacht. Jetzt studiere ich und zwar mit immer mehr Frauen [an der Universität]. Es gab auch eine Demonstration [der Indigenen Frauen in Brasilia im August]. Wir schließen uns immer mehr zusammen.