- Schädliche Algenblüten (HABs), auch "die rote Flut" genannt, treten weltweit auf. Wenn eingenommen bedrohen die kleinen, Giftstoff-produzierenden Algen das Meeresleben und Menschen. Diese Ereignisse, die manchmal natürlich sind, aber oft von Menschen verursacht werden, treten jetzt an der US-amerikanischen Golfküste jährlich auf und töten gefährdete Schildkrötenspezies.
- Die Physiologin Sarah Milton von der Florida Atlantic Universität erforscht die Auswirkungen von HABs auf Süßwasserschildkröten, um die Behandlung gefährdeter Meeresschildkröten zu verbessern, die aus Gewässern die voller Giftstoffe sind gerettet wurden.
- Milton fand heraus, dass Süßwasserschildkröten wesentlich mehr Algentoxine ertragen können als andere Säugetiere der gleichen Größe. Die Widerstandsfähigkeit lässt sich möglicherweise damit begründen, dass sie tauchen und Monate lang ohne Sauerstoff leben können. Wenn man diese Fähigkeit verstehen könnte, könnte man damit eventuell kranken Meeresschildkröten helfen, die während schädlichen Ausbrüchen der Algenblüte gerettet wurden.
- Wenn man die zellulären Mechanismen versteht, die es Süßwasserschildkröten ermöglicht ihre Hirn- und Körperfunktionen zu erhalten, während sie sich in einer anoxischen Umgebung befinden, dann könnte dies den Wissenschaftlern auch dabei helfen, die Ergebnisse für die Menschen zu verbessern, die einen Sauerstoffentzug erlitten haben, wie zum Beispiel bei einem Schlaganfall, was eine irreversible Schädigung der Gehirnzellen auslöst.
Unter ihren vorhistorisch anmutenden Panzern verbergen die Schildkröten die außerordentliche Fähigkeit ihren Atem unter Wasser anzuhalten und Stunden, sogar Monate am Stück ohne Sauerstoff auszukommen. Diese Kapazität unter Wasser zu überleben liegt auf zellulärer Ebene und hilft den Schildkröten dabei den Auswirkungen der Umweltverschmutzung durch schädliche Algenblüten (HABs), toxische Ereignisse die auch als “rote Flut” bezeichnet werden, standzuhalten, so eine Studie der Physiologin Sarah Milton und ihrer Kollegen an der Florida Atlantic Universität.
Ein besseres Verständnis dafür, wie die Toxine der roten Flut Süßwasserschildkröten beeinträchtigen könnte Forschern dabei helfen, bessere Behandlungsprotokolle für erkrankte Meeresschildkröten zu entwickeln, die während eines Ausbruchs der schädlichen Algenblüte gerettet wurden.
Schädliche Algenblüten, die als rote Fluten oder in anderen Farben vorkommen, treten mit dem schnellen, unkontrollierten Wachstum von Algen in Süßwasser oder der Meeresumwelt in Erscheinung. Die Alge verbraucht den Sauerstoff im Wasser und macht es anoxisch während sie gleichzeitig Toxine produziert. Diese Ereignisse, die manchmal natürlich auftreten, jedoch auch durch die erhöhte Belastung mit Nährstoffen durch chemische Düngemittel und andere menschliche Aktivitäten ausgelöst werden, sind an der Golfküste der USA zu einem jährlichen Ereignis geworden, das gefährdete Meeresschildkröten, Seekühe, Delfine, Fische und zahlreiche andere Meereslebewesen tötet.
Da die Gewässer auf der ganzen Welt durch den Klimawandel wärmer werden und durch menschliche Aktivität mehr Schadstoffe hinzukommen, vor allem Nitrate und Phosphor aus landwirtschaftlichem Abfluss, breiten sich die schädlichen Algenblüten weltweit aus und haben häufig tödliche Auswirkungen auf Meereskreaturen.
Miltons Forschung bezüglich der roten Flut konzentriert sich auf Brevetoxine, eine Gruppe von Neurotoxinen, die von einem einzelligen Dinoflagellat namens Karenia Brevis hergestellt werden. Es ist bekannt, dass diese Toxine bei Menschen Schalentiervergiftungen oder schwere Asthmaanfälle auslösen. Obwohl Studien an Säugetieren gezeigt haben, dass Brevetoxine die Nervenfunktion unterbrechen und somit Muskel- und Hirnschäden verursacht, so gab es für Schildkröten keine grundlegenden Informationen. “Wir wussten nicht ob das Toxin bei Schildkröten genau so wirkt, welche Menge Schaden verursacht, oder wie die Schildkröten es wieder aus ihrem System bekommen.”, so Milton.
Verglichen mit ähnlich großen Säugetieren haben Schildkröten einen langsamen Stoffwechsel was dafür sorgt, dass sie für die Auswirkungen von Drogen in geringeren Mengen anfällig sind. Daher erwartete Milton, dass es nicht viele Toxine brauchen würde, um Süßwasserschildkröten erkranken zu lassen, wenn sie einer simulierten roten Welle ausgesetzt werden. Überraschenderweise waren diese Schildkröten gegenüber den hohen Toxinwerten widerstandsfähiger als erwartet.
Milton vermutet, dass die Widerstandsfähigkeit der Schildkröten gegenüber den Toxinen der roten Flut in enger Verbindung mit ihrer Fähigkeit steht, lange zu tauchen, was ihren Gehirnen manchmal für mehrere Wochen am Stück den Sauerstoff entzieht und bei Säugetieren sorgt sowohl das Toxin als auch Sauerstoffmangel dafür, dass Zellen über einen gemeinsamen Pfad abgetötet werden. Mehrere Forscher untersuchen, was es den Zellen der Schildkröten ermöglicht ohne Sauerstoff zu operieren, und dann wieder zu ihrer normalen Funktion zurückzukehren.
Wenn man versteht wie die Toxine Süßwasserschildkröten beeinflussen, dann könnte man die Behandlungsstrategien für Meeresschildkröten verbessern, die HAB ausgesetzt waren, und möglicherweise für Menschen, die an einer anoxischen und / oder toxischen Krankheit leiden. Zusätzliche Studien könnten zeigen was dazu führt, dass die Zellen der Schildkröten überleben. Wissen, das Einsicht in die Zerstörung von Hirnzellen liefern könnte, die auftritt, wenn Menschen einen Schlaganfall haben.
Mongabay: Was hat Sie dazu veranlasst die Auswirkungen der “roten Flut” auf die Schildkröten zu untersuchen?
Milton: Es begann mit meinem Interesse für die Umweltphysiologie. Sauerstoffmangel ist ein großes Studiengebiet und Schildkröten können viele Stunden am Stück unter Wasser bleiben: Wie überleben ihre Gehirne ohne Sauerstoff?
Doch Meeresschildkröten kann man nicht studieren, da sie alle vom Aussterben bedroht sind, somit arbeite ich mit Süßwasserschildkröten, die, wie sich herausstellt, sogar noch besser darin sind, die Luft anzuhalten. Sie können den ganzen Winter Winterschlaf halten, und im Grunde genommen Monate lang nicht atmen.
Die Physiologie der Schildkröten, ihr Immunsystem, kann auch von der Umweltverschmutzung beeinträchtigt werden. Das Mündungsgebiet der Indian River Lagune in Florida hat einen sehr hohen Nährstoffgehalt durch landwirtschaftlichen Abfluss, und die Grünen Meeresschildkröten dort haben eine hohe Befallsrate der viralen Papillomkrankheit. In einem unberührten Gebiet in der Nähe haben die Schildkröten keinen Krankheitsbefall. Die Algenblüten sind ein weiterer Aspekt hiervon da sie ebenfalls von der ansteigenden Verschmutzung der Wasserwege durch Nährstoffabfluss angetrieben werden.
Rote Fluten können ein sehr hohes Absterben verursachen. An der Westküste Floridas starben 2005 mehr als 300 Meeresschildkröten, zusätzlich zu Fischen, Seekühen und Delfinen, an einer Algenblüte. Nicht alle Tiere sterben jedoch. Manche Schildkröten werden gerettet und in Rehabilitationseinrichtungen gebracht und dort behandelt, wobei das Hauptaugenmerk hier darauf liegt, die toxischen Symptome zu verbessern und die Toxine schneller aus ihrem System zu entfernen. Doch wir wissen nicht, was das Toxin tatsächlich tut, weshalb es sehr schwierig ist, gute Behandlungsprotokolle zu entwickeln.
Somit war das Ziel, die nordamerikanische Buchstaben-Schmuckschildkröte (Trachemys scripta) als Modell zu verwenden, um zu verstehen, welche Organe von den Toxinen beeinträchtigt werden, wie schnell es aus dem System verschwindet, welche Auswirkungen sie auf das Immunsystem und den Toxinmechanismus in den Zellen haben. Die eigentliche Frage war: werden die Schildkröten vom Brevetoxin auf die gleiche Art und Weise beeinflusst, wie Säugetiere?
Obwohl es im Grunde genommen so ist, dass ein Gehirn ein Gehirn, und ein Muskel ein Muskel ist, ganz abgesehen vom Tier, so waren vorherige Studien nur an Säugetieren vorgenommen worden. Und Schildkröten haben eine viel langsamere Stoffwechselgeschwindigkeit, weshalb sich Toxine möglicherweise nicht so schnell durch ihre Körper bewegen. Oder vielleicht macht dieser, im Vergleich zu Säugetieren, langsame Metabolismus das Toxin schlimmer, weil die Schildkröten es nicht so schnell abbauen können.
Mongabay: Schildkröten haben also spezielle Leitungsbahnen, die ihre Zellen schützen?
Milton: Wir haben bis jetzt noch nichts gefunden, das wirklich einzigartig an Schildkröten ist. Selbst die Gehirne von Säugetieren haben Schutzmechanismen, um dem Zelltod nach einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt entgegenzuwirken. Doch im Seilziehen zwischen den Überlebens- und Todesleitungswegen gewinnen die Todesleitungswege bei den Säugetieren. Bei Schildkröten werden die Todesleitungswege jedoch stark unterdrückt und die Schutzleitungswege werden sehr stark hochreguliert.
Wir denken, dass der Mechanismus, der die Gehirnzellen der Schildkröten daran hindert zu sterben, wenn das Tier nicht genug Sauerstoff hat, den Mechanismen, die das Gehirn davon abhalten an dem Toxin zu sterben, ähnlich sind. Die beiden Leitwege sind sehr ähnlich und wenn das Toxinlevel hoch genug wird, zeigen sowohl Säugetiere, als auch Schildkröten die gleichen Symptome.
Die Süßwasserschildkröten die wir zum Beispiel studiert haben, ebenso wie die Meeresschildkröten die in den Rehabilitationszentren untersucht wurden, werden sehr unkoordiniert, sie haben Muskelkrämpfe und ihre Köpfe wippen, und sie schwammen im Wasser im Kreis, ähnlich dem was Säugetiere an Land tun würden. Doch wir wussten das vorher nicht, da Wissenschaftler nur die Auswirkungen des Toxins auf Säugetiere studiert hatten.
Jetzt wo wir das wissen können wir effektivere Behandlungsmethoden für Meeresschildkröten entwickeln. Im Moment sind die Behandlungen darauf ausgerichtet, unterstützende Pflege für Tiere die dem Brevetoxin ausgesetzt waren zu leisten. Wenn wir die Auswirkungen des Toxins auf Schildkröten besser verstehen können, dann können wir Strategien entwickeln, die das Toxin schneller aus ihrem System entfernen und das Toxin auch aus dem Gewebe ziehen.
Mongabay: Was hat Sie an den Auswirkungen des Brevetoxins auf die Schildkröten überrascht?
Milton: Wir haben Gehirnzellenkulturen verwendet, um die Wirkungsweise bei Schildkröten im Vergleich zu Säugetieren zu studieren. Als wir wussten, dass das Toxin auf die gleiche Art und Weise funktioniert, es hält Natriumkanäle in Zellen offen, was zur kontinuierlichen Depolarisation führt, bis die Zelle stirb, wollten wir dann wissen, was die “effektive Dosis” des Toxins ist. Wie viel Toxin braucht es, damit es zu Zellproblemen kommt?
Wir fanden heraus, dass die Gehirnzellen von Süßwasserschildkröten sehr resistent gegen das Toxin sind: mehr als 16 Mal resistenter als die Zellen von Säugetieren, selbst wenn wir die Tests bei Temperaturen wiederholten, die näher am Normalwert für Säugetiere lagen. [Schildkröten sind Reptilien, die, im Gegensatz zu Säugetieren, keine spezifische Kernkörpertemperatur beibehalten, sondern deren innere Temperatur mit der Außentemperatur variieren kann.]
Dies war eine Überraschung, denn normalerweise, wenn wir Studien an Säugetieren auf etwas mit Schildkröten übertragen, dann gehen wir davon aus, dass Schildkröten nur ein Zehntel der normalen Stoffwechselgeschwindigkeit eines Säugetieres haben. Und die Hälfte davon ist dann Panzer. Wenn wir also behandeln, dann benutzen wir ein Zehntel, bis ein 20stel, sprich die Dosierung die wir verwenden würden, um den gleichen Effekt bei Säugetieren zu erzielen.
Wir fanden auch heraus, dass Süßwasserschildkröten [in Lebendtieruntersuchungen] das Toxin schnell aus ihrem System entfernen können und zwar in einem Zeitraum von 24 bis 48 Stunden, sowohl bei oraler Aufnahme, als auch durch Inhalation. Dies ist in den Rehabilitationszentren, wo die Bluttests der Meeresschildkröten zeigen, dass es bis zu 80 Tage dauern kann, bis die Toxine entfernt sind, nicht der Fall.
Die Algentoxine könnten sich im Wasser, in den Pflanzen oder anderen Nahrungsmittelquellen halten, was die Schildkröten langfristig anfälliger für die Krankheit oder andere Umweltstressoren machen könnte. Wenn also diese Tiere [Meeresschildkröten] in die Reha kommen und krank sind, dann müssen sie über einen sehr langen Zeitraum hinweg einer massiven Dosis des Toxins ausgesetzt gewesen sein.
Wir sind gerade dabei, neue Behandlungsprotokolle für Meeresschildkröten zu entwickeln. Aber wir untersuchen auch nach wie vor den Mechanismus, der es den Schildkröten erlaubt, so lange ohne Sauerstoff auszukommen. Wenn wir uns die Überlebenskünste der Schildkröten anschauen, dann ist die Frage: Wie können wir den menschlichen Gehirnzellen dabei helfen, mehr wie Schildkröten zu werden?
Mehr zu diesem Thema:
Cocilova CC, Flewelling LJ, Bossart GD, Granholm AA, Milton SL. Tissue uptake, distribution and excretion of brevetoxin-3 after oral and intratracheal exposure in the freshwater turtle Trachemys scripta and the diamondback terrapin Malaclemys terrapin. Aquatic Toxicology (2017) March; 187: pp 29-37.
Cocilova CC, Milton SL. Characterization of brevetoxin (PbTx-3) exposure in neurons of the anoxia-tolerant freshwater turtle (Trachemys scripta). Aquatic Toxicology (2016) Nov;180: pp 115-122.
Milton SL, Prentice HM. Beyond Anoxia: The Physiology of Metabolic Downregulation and Recovery in the Anoxia-tolerant Turtle. Comparative Biochemistry and Physiology, Part A, Molecular & Integrative Physiology. (2007) June; 147(2): pp 277-290.
Nayak G, Prentice HM, Milton SL. Lessons from nature: Signaling cascades associated with vertebrate brain anoxic survival. Experimental Physiology (2016) Mar 17. [Epub ahead of print]