- Die brasilianische Regierung unter Präsident Temer begehe schwere Verstöße gegen die Rechte der Guarani-Kaiowá, berichtet ihr Anführer, Ladio Veron. Er befindet sich diesen Frühling auf einer Reise durch Europa, deren Ziel es ist, um Unterstützung für die Rechte indigener Völker in Brasilien zu werben.
- Bei Vorträgen und Petitionen in ganz Europa berichtete Veron über die zunehmende Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien. Darüber hinaus deckte er vergangene und anhaltende Landraube auf und protestierte gegen die Bemühungen der Temer-Regierung, die Demarkierung indigener Territorien zu stoppen, die in der Verfassung von 1988 garantiert worden war.
- Diese Reise findet vor dem Hintergrund eskalierender Unruhen und öffentlicher Proteste in Brasilien statt, wo die Temer-Regierung zunehmend in einem Sumpf aus Korruptionsvorwürfen versinkt. Die Beliebtheitsquote der Regierung befindet sich mittlerweile im einstelligen Bereich und droht vollends einzubrechen. Doch auch der derzeitige Nationale Kongress ist den Rechten indigener Völker gegenüber feindlich gesinnt.
Ladio Veron, ein Anführer der indigenen Guarani-Kaiowá in Brasilien, reist gerade durch Europa, um einen verzweifelten Appell an die internationale Gemeinschaft zu richten. Er verlangt den Stopp der Angriffe und Ermordungen, des Landraubs und der Umweltzerstörung die seinem Volk zufolge mittlerweile zum Markenzeichen der Temer-Regierung in Brasilien geworden seien.
Die Guarani-Kaiowá kämpfen im Bundesstaat Mato Grosso do Sul im Südwesten Brasiliens, an der Grenze zu Paraguay, um die Anerkennung ihrer indigenen Landrechte. Nach jahrzehntelangen Territorialkonflikten mit Viehzüchtern sowie Soja- und Zuckerrohrproduzenten hofft Veron, dass er mit seiner Europareise Unterstützung gewinnen und ein internationales Netzwerk aus Verbündeten aufbauen kann, das in seinem Heimatland Druck auf Temer und den von der Agrarlobby dominierten Kongress ausüben wird.
„Europa kann dieses Problem nicht lösen“, erklärte Veron gegenüber Mongabay, „doch es kann uns unterstützen, den Druck erhöhen, die Situation verurteilen und fordern, dass unsere Rechte und unser Land anerkannt werden.“
Die dreimonatige Reise, die von März bis Juli geplant ist, findet zu einer Zeit statt, in der in ganz Brasilien eine Zunahme der Spannungen zwischen dem Staat und indigenen Völkern zu beobachten ist. Diese äußerten sich bereits in Demonstrationen, auf die in einigen Fällen gewalttätige Angriffe folgten. Auf seiner Reise machte Veron Halt in Spanien, Griechenland, Italien, Großbritannien, Portugal, Irland, Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Belgien und Österreich.
„Ich bin hier, um für Gerechtigkeit für mein Volk zu kämpfen“, sagte Veron im April, als er eine friedliche Kundgebung vor der brasilianischen Botschaft in London anführte. Während er Ermutigungen und Umarmungen von Demonstranten entgegennahm, sagte er: „Ich habe schon so einen weiten Weg zurückgelegt.“
Die brasilianische Botschaft bestätigte, dass sie von Veron eine Petition im Namen der Guarani-Kaiowá erhalten habe, die die „Forderung nach der Demarkierung ihres Territoriums und nach Sicherheit“ enthalte. Die Kundgebung beschrieb die Botschaft als „friedliche und demokratische Zusammenkunft.“
In der Petition wird die Temer-Regierung aufgefordert, „das Territorium der Guarani unverzüglich zu demarkieren.“
Bevor europäische Siedler in Südamerika ankamen, zählte das Volk der Guarani einige Millionen Menschen. Heute leben von ihnen nur noch rund 51.000 in Brasilien – etwa ein Drittel davon sind Guarani-Kaiowá. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reduzierte der brasilianische Dienst zum Schutz der Indios (SPI) das Territorium der Guarani-Kaiowá auf acht Reservate mit einer Gesamtfläche von knapp unter 30.000 Hektar. Nun seien selbst in diesem Gebiet „neue Städte und Fabriken“ entstanden, berichtet Veron.
Laut der brasilianischen Botschaft sind heute rund „13 Prozent der Fläche Brasiliens, also ca. 1.173.000 Quadratkilometer, als indigene Gebiete demarkiert – mehr als das Vierfache der Fläche des Vereinigten Königreichs.“
Die vollständige Demarkierung der indigenen Territorien wurde in der brasilianischen Verfassung von 1988 zugesichert, doch die Regierung hat die Vollendung dieses Projektes lange hinausgezögert. „Das Land wurde uns noch nicht gegeben, wir wissen nicht, warum“, kritisiert Veron.
Die Guarani-Kaiowá leben nun auf kleinen Landflächen am Straßenrand, die alle nicht größer als ein Fußballplatz sind. Veron berichtet, dass es 46 erfolgreiche Landrückgewinnungsversuche gegeben habe. Bei jedem Versuch habe man einen Bauernhof oder ein Grundstück im Ausmaß von einigen Quadratmeilen zurückgewonnen.
Frühere Regierungen gaben leere Versprechungen zur Anerkennung und Demarkierung des Territoriums der Guarani-Kaiowá und zögerten dann den Demarkierungsprozess hinaus. Doch die derzeitige Regierung ist sogar eilig dabei, Pläne zum endgültigen Stopp der Demarkierung zu genehmigen.
Farmer, Möchtegern-Landbesitzer und Landräuber reagieren auf die Landrückgewinnungen der indigenen Völker, die Untätigkeit der Regierung und die gegen Indigene gerichtete Rhetorik und heuern manchmal Bewaffnete an. So wurden laut einem 2015 veröffentlichten Bericht der brasilianischen NRO Conselho Indigenista Missionario (Indigener Missionsrat, kurz Cimi) zwischen 2003 und 2014 390 Anführer der Guarani-Kaiowá ermordet. Weitere wurden angegriffen und schwer verletzt.
In der Hoffnung, der Gewalt ein Ende zu setzen, sei die Petition, die Veron der brasilianischen Botschaft in London übergeben habe, „an unser Außenministerium in Brasilia und den Vorsitzenden der Fundação Nacional do Índio, der Nationalen Stiftung der Indigenen [FUNAI], weitergeleitet worden“, sagte ein Sprecher der Botschaft. Die FUNAI ist die staatliche Behörde in Brasilien, die für Maßnahmen zum Schutz indigener Völker verantwortlich ist.
Im Mai empfahl eine Parlamentskommission die Abschaffung der FUNAI und verlangte die Festnahme einiger ihrer Mitarbeiter wegen angeblicher illegaler Aktivitäten zur Unterstützung der indigenen Bewegung. Im Rahmen von Verons Europareise werden auch europäische Unterschriften für Petitionen gegen die jüngsten, schmerzhaften Kürzungen der Mittel für die FUNAI gesammelt.
Die FUNAI verfüge zwar seit vielen Jahren nur über ein „gefährlich niedriges Budget“, erklärt Sarah Shenker, eine hochrangige Mitarbeiterin der NRO Survival International, doch die jüngste Reihe an Kürzungen sei „kein Zufall“. „Einflussreiche Politiker versuchen, die Macht und den Einfluss der Behörde zu reduzieren.“ Kritiker behaupten, die jüngsten Kürzungen seien genau zu dem Zeitpunkt vorgenommen worden, an dem die bancada ruralista, Brasiliens Agrarlobby, eine Belohnung für ihre Unterstützung bei der Machtergreifung von Präsident Temer letztes Jahr anstrebe.
„Dies ist ein Ausnahmezustand, der den Untergang für unkontaktierte Stämme bedeuten könnte“, so Shenker weiter.
Bei der Reise werden auch europäische Unterschriften für eine Petition gesammelt, die den brasilianischen Kongress dazu auffordert, gegen „PEC 215“ zu stimmen. Diese Verfassungsänderung würde der FUNAI die Kompetenz zur Rückgabe indigener Territorien entziehen und sie dem Kongress übertragen, dessen Abgeordnete stark von den Interessen der Agrarindustrie beeinflusst werden.
Die langfristigen Auswirkungen der Reise seien zwar noch nicht absehbar, doch auf kurze Sicht sei „die Stimme des Volkes der Guarani-Kaiowá klar und deutlich gehört worden“, so Shenker.
Die Europareise der Guarani-Kaiowá fand ein positives Medienecho in Brasilien, Spanien, Italien, Großbritannien und Deutschland. „Es gab zahlreiche Veröffentlichungen in vielen Sprachen; die Medienresonanz war gut“, berichtet Shenker. Zudem haben viele europäische Organisationen ihre Unterstützung angeboten, darunter Glaubensgemeinschaften in Italien und Umweltaktivisten in Griechenland.
Spanische, deutsche und österreichische Parlamentsabgeordnete trafen sich mit Veron. Großbritanniens parteiübergreifende parlamentarische Gruppe für Menschenrechte versprach, Menschenrechtsverstöße gegen die Guarani-Kaiowá zu überwachen, ebenso die irische Partei Sinn Fein. Darüber hinaus gab es auch Versuche, das Thema im deutschen und im österreichischen Parlament auf die Tagesordnung zu setzen.
„Internationaler Druck kann etwas bewirken“, versichert Shenker.
Veron besuchte die Universitat Autònoma de Barcelona, sprach mit Aktivisten in Leipzig und war bei zahlreichen Radiosendungen zu Gast. In einer österreichischen Schule erklärte er, wie europäische Lebensmittelkonsumgewohnheiten in direktem Zusammenhang mit der Politik der Agrarlobbys in Brasilien stehen — Soja aus ehemaligen indigenen Gebieten wird weltweit von Menschen verzehrt.
Es sei wichtig, dass die Menschen in Europa erkennen, dass die Probleme, mit denen indigene Völker zu kämpfen haben, nicht nur weit entfernte Ereignisse sind, die nichts mit uns zu tun haben“, meint Shenker.
Der Grund für diese Europareise ist die Tatsache, dass die Guarani-Kaiowá das Vertrauen in die derzeitige Regierung verloren haben. „Was Temer vorschlägt, kommt einem Genozid und Ethnozid an indigenen Völkern gleich“, kritisiert Seb Muniz, Verantwortlicher für internationale Programme bei War on Want Latin America.
Temer sei „nicht der erste, der unsere Rechte verletzt und uns diskriminiert“, erklärt Veron gegenüber Mongabay. Seit Jahren werden die staatlichen Versprechen zum Schutz indigener Völker und zur Rückgabe indigener Territorien nicht eingehalten. Es gebe „keine Reaktion“ und „keine Ergebnisse“, so Veron, „keine Antworten, keine Weiterverfolgung.“
„[Unsere] Anführer reisen so oft in die Hauptstadt, um mit der Regierung zu sprechen, doch man hört ihnen einfach nicht zu“, berichtet Veron. „Wir bitten um eine Audienz im Parlament, im Kongress, im Senat, doch sie wollen uns schlichtweg nicht empfangen.“ Im Mai wurde die größte je dagewesene indigene Kundgebung in Brasilia, der Hauptstadt des Landes, mit Tränengas und Gummigeschossen bekämpft.
„Die letzte Lösung ist, nach Europa zu kommen und um Unterstützung zu bitten“, sagt Veron. „In Brasilien haben wir niemanden, an den wir uns wenden können.“
Während Veron seine Reise durch Europa fortsetzt, versinken die Brasilianer immer weiter in Hoffnungslosigkeit, denn das Land wird von einem Korruptionsskandal nach dem anderen erschüttert. „Unterdrückung, Militarisierung und die wachsende Missachtung der Demokratie sorgen dafür, dass sich die schutzbedürftigsten Menschen in Brasilien in einer besonders schwierigen Lage befinden“, warnt Muniz.
Temers Sparmaßnahmen, Privatisierungsversuche, Kürzungen für Sozialprogramme, Umweltbelastungen und die Konzentration der politischen Macht würden einen Angriff „nicht nur auf indigene Völker, sondern auf alle benachteiligten Bevölkerungsgruppen in der brasilianischen Gesellschaft darstellen“, meint Muniz abschließend.
„Die Bewegung wird immer stärker“, stellt Shenker fest, doch nun, da das Schicksal der Guarani-Kaiowá und der verbleibenden Regenwälder Brasiliens auf dem Spiel steht, „ist es wichtiger denn je, dass sich die Menschen überall für ihre Sache einsetzen.“